Ein kleines Zicklein trinkt Milch aus der Flasche.Eine frei erfundene Kurzgeschichte nach einer wahren Begebenheit.

Es war sehr ruhig in dem Naturpark zwischen der Cala Agulla und Cala Mesquida. Für Mitte Februar war es ein sehr schöner, sonniger Tag und die Tiere würden noch ein paar Wochen unter sich sein, bevor die Touristen wieder die Insel eroberten.

Trotzdem waren heute zwei deutsche Wanderer unterwegs, die die Schönheit der Insel Mallorca auch im Winter schätzten. Zwei Frauen hatten sich entschlossen, den Wanderweg zwischen den beiden Buchten abzumarschieren und die Natur zu genießen. Sie hatten gerade die Anhöhe in Richtung Cala Mesquida bezwungen und machten sich auf der anderen Seite wieder an den Abstieg, als eine von beiden abrupt stehen blieb.

          „Was ist?“ fragte die Blonde der beiden Frauen.

         „Ich hab was gehört“, antwortete ihre Freundin und hielt lauschend den Kopf schräg.

         „Was denn? Ich höre nur Blätter rascheln…“

         „Pschschscht! … Da ist es wieder! Hast du gehört?“

         „Ja… da meckert was. Ist ne Ziege. Davon laufen hier einige herum. Komm weiter.“

         „Hör doch mal richtig hin! Die klingt wie ein Baby und meckert ganz verzweifelt.“

         „Ja, naja, sie wird nach ihrer Mutter rufen. Können wir jetzt weiter gehen?“

         „Bleib doch mal stehen! Hörst du die Mutter denn antworten?“

Die Frauen hielten gespannt die Nasen in den Wind und lauschten weiter.

         „Nö. Ich hör nur eine Ziege.“

         „Siehst du, da stimmt was nicht. Los, komm mit!“

Die Blonde ließ resigniert Kopf und Schultern hängen und folgte ihrer Freundin, die sich bereits in die Büsche schlug. Ab und zu blieben sie stehen, bis sie wieder das Meckern vernahmen und änderten jedesmal leicht die Richtung, bis das klägliche Meckern immer lauter wurde.

         „Sie muss ganz in der Nähe sein“, flüsterte die Blonde. „Aber ich sehe sie nicht. Vielleicht hat sie uns kommen gehört und ist weggelaufen.“

         „Kein Wunder, so wie du durchs Gehölz gepflügt bist!“

         „Hey, jetzt werd mal nicht ulkig! … Ach, guck mal, da liegt sie ja!“

         „Tatsächlich!“ freute sich die Freundin, „Ein schwarzes, Zicklein!“

Zwischen niedrigen Büschen und Sträuchern lag ein wenige Wochen altes Ziegenkind, meckerte kläglich und machte keinerlei Anstalten wegzulaufen.

         „Oh, nein, sie ist verletzt!“ bemerkte die blonde Wanderin bestürzt. „Was machen wir jetzt mit ihr?“

         „Wir nehmen sie mit und geben sie im Rancho ab“, bestimmte die Freundin kurzentschlossen.

         „Wohin?“

         „Na im Reitstall Bonanza. Die kümmern sich bestimmt.“

Sie nahm das Ziegenkind auf die Arme, das zu schwach war um sich zu wehren und kehrten nach Cala Ratjada zurück.

         Das kleine Zicklein hatte die letzten Tage vergeblich versucht aus dem Euter seiner Mutter Milch zu trinken. Aber das Euter war leer. Aus irgendeinem Grund gab die Mutter keine Milch mehr und so war das Kleine irgendwann einfach liegengeblieben und konnte nicht mehr aufstehen. Die Mutter hatte noch versucht, es zum Aufstehen zu bewegen und es am Genick gepackt, um es hochzuziehen. Das hatte sie so lange versucht, bis die Herde weiter gezogen war. Der war sie dann gefolgt und hatte ihr Junges einfach liegen gelassen. Das Kleine war zu schwach, um der Herde zu folgen und so tat es, was alle Babies tun, wenn sie Angst haben, es rief ununterbrochen verzweifelt nach seiner Mama. Jetzt lag es bei der Menschenfrau auf dem Arm und war zu müde um Angst zu haben. Sie hatte das Kleine fürsorglich unter ihre Jacke gestopft und trug es nun zielstrebig den Berg wieder hinunter.

Im Rancho angekommen wechselte die kleine Ziege im Handumdrehen das Pflegepersonal. Die beiden Wanderinnen schritten nach Abgabe des Findelkindes hurtig von dannen, dem nächsten Café entgegen, im vollen Bewusstsein, ihre heutige gute Tat bereits vollbracht zu haben, während im Rancho in der Futterkammer Bestandsaufnahme gemacht wurde. Ein Babyfläschchen war schnell gefunden, nur Milchpulver musste neu besorgt werden. Also wurden zwischen zwei Ausritten mal eben schnell die Aufgaben neu verteilt: Milchpulver kaufen, bei Bekannten nachfragen, ob sie ihr altes Laufställchen entbehren könnten und mit der Ziege vorsichtshalber mal zum Tierarzt fahren.

         „Seht zu, dass ihr alle pünktlich wieder zurück seid!“ rief die Chefin ihren davoneilenden Mitarbeiterinnen hinterher und murmelte ärgerlich in sich hinein: „Ich verstehe nicht, warum alle Tiere immer bei mir landen! Katzen, Hunde, Schildkröten, Hühner und jetzt auch noch ´ne Ziege! Wenn die an meine Zierpflanzen geht, dann …“ Der Rest ging im Gequietsche der rostigen Schubkarre unter, mit der sie den Hof von Pferdeäpfeln befreite. Es war irgendetwas mit „Barbecue“.

         Bis auf einen leicht lädierten Nackenmuskel, in den die Mutter unablässig hineingebissen hatte, um das Junge von der Stelle zu bewegen, und fortgeschrittener Dehydrierung war das Zicklein kerngesund. Es bekam sein neues Zuhause in einem mit Stroh ausgelegten Laufställchen, das zwischen die hinteren Pferdeständer platziert wurde. Dort wohnte es nahe bei den Renter- und Privatpferden und wurde ab und zu von neugierigen Rancho-Katzen und mutigen, wilden Hühnern besucht. Alle paar Stunden bekam es ein Milchfläschchen und nachts wurde der Laufstall vorsichtshalber abgedeckt. Das Zicklein war zwar noch klein und schwach, aber es war immerhin eine Ziege und wer konnte schon voraussagen, wann es seine Sprunggelenke entdeckte und entschied sie zu benutzen.
Berittführerin Nicki hatte die Rolle der „Mutterziege“ übernommen. Alle paar Stunden gab sie dem Zicklein ein Fläschchen, das es gierig leernuckelte und so dauerte es nicht lange, bis das Ziegenkind seinerseits Nicki adoptierte und sie als seine neue Mama ansah. Tagsüber, durfte die Kleine frei auf dem Rancho herumlaufen. Die Pferde schnupperten neugierig an dem neuen Mitbewohner und erlaubten ihm großzügig in ihren Ställen herumzutoben, solange es von ihren Trögen wegblieb. Aber sobald das Zicklein sah, wie Nicki in der Futterkammer verschwand, kam sie ihr meckernd hinterhergelaufen. Könnte ja sein, dass sie jetzt wieder ein Fläschchen fertig machte.

Die Kinder, die jede freie Minute in den Stall kamen, um sich um ihre Pflegepferde zu kümmern, waren ganz begeistert von dem neuen Rancho-Bewohner.

         „Ist sie nicht süß?“

         „Oh, schau mal, sie leckt meine Hand ab!“

         „Fühl mal, ihr wachsen schon Hörnchen!“

         „Wie heißt sie denn überhaupt?“

        „Valentina!“ erklärte die Chefin, die gerade mit einer Hand voll Stricke um die Ecke kam und sie unter den Kindern verteilte.
         „Weil sie am Valentinstag gefunden wurde. Jetzt lasst mal die Ziege in Ruhe und schnappt euch jeder ein Pferd. Der Otto macht schon die ganze Zeit Randale in seinem Ständer. Hört das eigentlich keiner? Das heißt, er will was trinken. Also an die Bar mit ihm. Dann bringt ihr die Ponys und den alten Opi in den großen Korral und lasst sie ´ne Weile spielen! Hopp! Hopp!“

Die Kinder sprangen auf und stoben in alle Richtungen davon. Dabei riefen sie alle durcheinander:

         „Ich nehm das Mäuschen!“

         „Und ich den Leon!“

         „Nein! Den wollte ich nehmen!“

         „Zu spät! Ich hab´s zuerst gesagt!“

Während die Kinder mit jugendlicher Begeisterung die Aufträge ausführten, beäugte die Chefin misstrauisch das junge Zicklein, das gerade interessiert an einem der liebevoll gepflegten Hibiskusbüsche schnupperte.

Die Wochen vergingen und Valentina wurde jeden Tag kräftiger und selbstbewußter. Bald hüpfte sie ohne Schwierigkeiten auf allen Bänken und Tischen herum. Sie balancierte am Wannenrand der Pferdetränke, ohne das Gleichgewicht zu verlieren und nahm jede Gelegenheit war, ihr Köpfchen gegen jedes Bein zu drücken, dass zufällig ihren Weg kreuzte. Irgendwann war auch der Deckel mit dem nachts ihr Laufställchen abgedeckt wurde kein Hindernis mehr für sie. Eines Morgens stellte Margot, die meistens als erste da war, erschrocken fest, dass der Deckel weggedrückt und das Laufställchen leer war. Aufgeregt und mit wild pochendem Herzen lief sie übers ganze Rancho, guckte in jeden Stall und rief laut nach Valentina; aber die machte keinen Muckser. Es war ja noch nicht Essenszeit und erst als Nicki kam und nach ihr rief kam sie an gehüpft. Sie hatte sich in der Nacht einsam gefühlt und war ausgebrochen um es sich bei den Ponys im Stroh gemütlich zu machen.

         „Du lieber Himmel“, murmelte Margot, „Ich darf gar nicht daran denken, was da alles hätte passieren können! Stell dir vor, sie wäre über die Straße gelaufen! Die fahren doch hier immer alle wie die Bescheurten…“

         „Meine Pflanzen!!“

Nicki und Margot tauschten wissende Blicke:

         „Oh-oh!“

Die Chefin stand vor den traurigen Resten ihrer mit sehr viel Hingabe gepflegten Blumenrabatten im Eingangsbereich. Fast alle waren bis auf die nackten Stängel abgerupft.

         „Ich fürchte, damit hat sich deine Ziege ins Aus geschossen“, flüsterte Margot Nicki zu und verschwand eilig hinter dem großen Strohballen um die leeren Netze voll zu stopfen und dem drohenden Donnerwetter zu entgehen.

         „Ach, jetzt ist es plötzlich meine Ziege? murmelte Nicki und streifte sich schon mal mental den Talar über, um das Ziegenkind vor der erbosten Chefin zu verteidigen.

Nachdem beim Misten die erste Wut verraucht war und man später beim Frühstück zusammen saß, wurde über das weitere Schicksal von Valentina beraten. Denn um weiter im Rancho zu wohnen war sie schon zu groß und man konnte sie während der Arbeit und wenn Gäste kamen ja nicht ständig im Auge behalten. So wurde ein bißchen herum telefoniert und dank Nickis guter Kontakte wurde noch vor dem ersten Ausritt ein Finka - Besitzer gefunden, der sich über eine Ziege auf seinem Grundstück freuen würde. Schon am nächsten Tag hatte Valentina ein schönes, neues Zuhause. Auf der Finka hatte sie viel Platz zum Herumtoben und Klettern und zwei neue Freunde bekam sie auch: ein kleines Pony mit dem sie sich das Gras und den Leckstein teilen durfte und das genau so schwarz war wie sie und Morton, den alten Schäferhund, der den ganzen Tag vor dem Tor lauerte und jeden anbellte, der vorbei kam. Bis auf Valentina; aus irgendeinem Grund konnte er das vorwitzige, streng riechende Geschöpf gut leiden und an regnerischen Tagen teilten sich die beiden sogar einträchtig seine sonst so leidenschaftlich verteidigte Hundehütte.

 

Text und Foto: Nadja von der Hocht