Das höfliche PferdEine kleine Verhaltensstudie aus Sicht des Pferdes


Auf der abgelegenen Rentnerwiese, auf der auch einige wenig beschäftigte Privatpferde untergebracht waren, war gerade alles ruhig und friedlich. Der morgendliche „Fütterungsaufruhr“ hatte sich gelegt und die bunt gemischte Herde aus überwiegend alten und gesundheitlich angeschlagenen Pferden hatte sich über den Platz verteilt, döste in der Sonne, hatte die Köpfe in den Strohbehältern vergraben oder rupfte genüsslich den jungen Klee, der gerade überall aus dem Boden spross.

Das bekannte Quietschen des Eingangstores ließ die Herdenchefin aufhorchen. Da kam ein Mensch außerhalb der Fütterungszeiten. Was konnte das bedeuten? Als ranghöchste Stute war es ihre Pflicht, wenigstens die Situation einzuschätzen, auch wenn sie es nur selten verhindern konnte, dass eines ihrer Herdenmitglieder aus der Herde entfernt wurde. Ab und zu wurde nämlich eines von den jüngeren Pferden doch noch zur Arbeit, einem Ausritt oder einem Spaziergang abgeholt, was der alten Füchsin sehr missfiel. Sie hatte lieber alle ihre Untergebenen in Sichtweite, daher wartete sie gespannt darauf, wer da jetzt wieder unangemeldet um die Ecke kam. Es war eines von den Weibchen in voller „Kampfmontur“. Die alte Traberstute hielt nach dem Jüngsten in der Herde Ausschau, dem chicken, spanischen Schimmel. Er döste gerade mit angewinkeltem Hinterhuf im Schatten eines Baumes.
    „Hey, Nummer Zwei!“ rief die Chefin dem jungen Spanier zu. Als gewissenhafte Leitstute hatte sie ihre Herdenmitglieder selbstverständlich rangmäßig durchnummeriert.
     „Die will zu dir!“
Der Schimmel hob den Kopf und erfasste mit einem Blick die Situation: Weibchen in Reithosen mit Strick in der Faust, Halfter über der Schulter und angestrengtem Blick, den sie auf den Schimmel geheftet hatte.
     „Jep!“ bestätigte der Wallach, „Ich bin dann mal weg.“
Und schon machte er auf dem Absatz kehrt und schlug sich in die Büsche, die am Rande der Umzäunung als zusätzliche, natürliche Barriere wuchsen. Das Weibchen gab ein genervtes Schnauben von sich, als sie die Verfolgung aufnahm. Zehn bis fünfzehn Minuten verstrichen, in denen das Weibchen immer wieder versuchte, dem Schimmel den Weg abzuschneiden, oder ihn mit Leckerlies zu locken. Ab und zu blieb er stehen und ließ sie fast bis auf Armlänge an sich heran. Er hatte sie aufmerksam im Blick und beobachtete jede kleinste Bewegung. Manchmal ließ er zu, daß sie kurz seinen Hals streicheln konnte. Doch sobald sie das Halfter anhob und in Richtung seiner Nüstern bewegte, sprang er zur Seite und galoppierte mit wehender Mähne davon.
Nach gut zwanzig Minuten gab das Weibchen resigniert auf und stapfte schimpfend ohne Pferd am Strick wieder von dannen. Der Schimmel sah ihr nachdenklich hinterher. Die Chefin gesellte sich zu ihm und fragte:
     „Sag mal, quält die dich?“
     „Nö, wieso?“
     „Was soll dann diese Anstellerei? Ich freue mich ja, wenn die Herde zusammen bleibt, aber du bist doch noch jung, warum willst du nicht mitgehen und mit einem deiner Menschen die Reitwege unsicher machen? Du hast bei den meisten Zweibeinern schon den Ruf, schwierig und nicht ganz normal zu sein. Ein paar von denen strahlen regelrechte Angstwellen aus, wenn sie mit der Absicht kommen, dich reiten zu wollen. Stellst du unterm Sattel da draußen etwa Unsinn an?“
Der junge Schimmel sah die alte, erfahrene Füchsin verwundert an.
     „Ich habe den Ruf schwierig zu sein? Ich bin die Höflichkeit in Person! Irgendwie erkennen das nur wenige. Mach dir mal lieber Sorgen um deinen Ruf! Du flippst jedes Mal aus, wenn jemand dein Pony anfassen will oder es aus welchen Gründen auch immer beim Füttern von dir weg stellt.“
     „Die kleine Maus ist erstens noch älter als ich und zweitens nicht mehr ganz gesund. An der muss keiner mehr dran herumfummeln oder Angst haben, dass ich ihr die Spezialdiät weg futter. Du willst bloß nicht geritten werden, du Faulpelz!“
   „Das stimmt nicht!“ protestierte der Wallach, „Ich gehe gerne raus und galoppiere mit meiner Lieblingsmenschin durchs Wäldchen. Nur leider passiert das so selten, weil sie nicht so oft da ist. Die anderen, die sich mit mir beschäftigen, machen langweilige Bodenarbeit mit mir und irgendwelche dummen Übungen, die ich total doof finde. Niemand hört mal zu und findet raus, was mir Spaß macht, geschweige denn, dass ich mal anständig begrüßt werde! Mit dem Strick zu wedeln, meinen Namen quer über den Platz zu brüllen und sich nicht mal selber vorzustellen ist keine Begrüßung!“
     „Verlangst du da nicht ein bisschen viel von den Zweibeinern?“
     „Keineswegs! Ich finde, wer mich mit Stricken knebeln und mich in unbequeme und schlecht sitzende Sättel quetschen will, sollte wenigstens so viel Anstand haben, mich vorher mal an ihm riechen zu lassen, ohne mir gleich auf die Nase zu hauen, weil ich es angeblich dabei an Respekt mangeln lassen würde! Sowas Dummes! Von anderen Respekt verlangen aber selber keinen haben! Da könnte ich mich stundenlang drüber aufregen!“
     „Ach ja...“ , sinnierte die Chefin, „Das Sattelzeug... die lernen es echt nie, oder? Aber das ist ein anderes Thema.“
Während die beiden Pferde ins Gespräch vertieft waren, quietschte wieder das Tor. Noch bevor der sich nähernde Mensch ins Blickfeld kam, schickte er bereits unbewusst seine gewaltige Aura voraus. Die Pferde wussten jetzt schon, wer da kam, ohne ihn sehen oder riechen zu müssen.
     „Da kommt das Alphamännchen“ weissagte der Schimmel.
   „Du meinst den Leitwolf, der nicht weiß, dass er einer ist“, berichtigte die Chefin, die eine sehr gute Zweibeinerkenntnis hatte.
Der Mensch mit dem silbernen Haupthaar, der jetzt um die Ecke kam, war die Ruhe selbst. Einige der Pferde, die in der Nähe standen, sahen nur kurz von ihrem Strohballen auf, weil sie das Tor gehört hatten und ließen sich nicht weiter von seiner Anwesenheit stören. Nur die alte Schimmelstute mit dem blauen Auge machte sich mit steifen Schritten auf den Weg in seine Richtung, denn egal zu wem er wollte, für sie blieb er immer stehen und nahm sich Zeit für ein paar Streicheleinheiten. So war es auch dieses Mal. Er wartete geduldig, bis die Stute ihn erreicht hatte und ihm zur Begrüßung die Nüstern entgegen streckte. Er sprach nur selten, wenn er sich mit Pferden alleine beschäftigte. Er war einfach nur da, genoß seinerseits die Ruhe und die Anwesenheit der Pferde und kraulte dabei Stirn, Hals und Mähnenkamm der altgedienten, kleinen Rentnerstute. Nach einer Weile setzte er seinen Weg durch die kleine Herde fort, blieb aber nach ein paar Schritten wieder stehen und stieß seinen besonderen Pfiff aus. Dieser Pfiff war nicht als Ruf gemeint und er war auch nicht auf ein besonderes Pferd im Speziellen gemünzt. Es war sein Erkennungssignal. Mit diesem Pfiff wussten jetzt alle Pferde auf der Koppel, welcher Mensch da kam und konnten nun ihrerseits entscheiden, ob es ihnen egal war, dass er zu Besuch da war oder ob sie ihn begrüßen wollten. Auch er hatte Strick und Halfter dabei. Aber er trug beides entspannt über der Schulter und machte noch keinerlei Anstalten es benutzen zu wollen. Einige der älteren Wallache machten sich gemächlich auf den Weg in seine Richtung und auch der hübsche Spanier setzte sich in Bewegung.
     „Ähh...“, schnaubte die Chefin dem jungen Wallach hinterher, „Dir ist schon klar, dass die Weibchen ihn wegen dir geschickt haben, oder?“
     „Das ist in Ordnung“, antwortete der Spanier, „Er ist ein echter Kumpel. Die paar Meter, die wir gleich bis zum Reitplatz nebeneinander gehen werden, ist mir der Zirkus wert und vielleicht hab ich ja Glück und er begleitet mich nachher auch wieder nach Hause.“
Das Männchen war mittlerweile umringt von sachte schnaubenden Nüstern, die alle ihre Aufwartung machen wollten. Er verteilte in alle Richtungen gleichmäßig etwas Liebe und Anerkennung, bis die Pferde, von denen heute nichts erwartet wurde, sich nach und nach wieder trollten, um wieder dem Tagewerk eines Rentnerpferdes nachzugehen. Jetzt konzentrierte sich das Männchen auf den Spanier, nickte ihm zu und fragte:
     „Wie sieht´s aus, mein Freund? Gehst du mit?“
beste FreundeMit diesen Worten drehte er sich um und marschierte Richtung Tor voraus. Als er sich wieder umdrehte, war der Wallach ihm gefolgt und blickte ihn erwartungsvoll an. Das Männchen nahm das Halfter von der Schulter, sortierte es ordentlich und hielt es seinem jungen Freund offen vor die Nase. Der Wallach nahm das Angebot an und tauchte ganz freiwillig seinen Kopf hindurch.
     „Wir zwei verstehen uns, nicht war, mein Freund?“
Er verschloss das Halfter sorgfältig, vergewisserte sich, dass es richtig saß und nirgendwo drückte, hakte den Strick ein und führte das stolze Pferdchen durch das Tor um es zur Arbeit zu bringen.
Die alte Füchsin hatte in einiger Entfernung alles beobachtet und murmelte in ihren schon leicht ergrauten Bart:
     „So ein Theater, ob dich der Mensch, der dich gleich gängelt, begrüßt oder nicht … sowas hätte ich mir damals zu meinen Rennsportzeiten nicht erlauben dürfen. Und später als Reitpferd schon mal gar nicht. Aber wenn sich die Zeiten ändern, vielleicht ändern sich ja auch die Menschen...“



Text & Fotos: Nadja von der Hocht